Eine von der GEW initiierte online-Konferenz mit den bildungs- bzw. schulpolitischen Sprecher_innen der in der Bürgerschaft vertretenen Parteien zur Situation an den Schulen in Zeiten der Pandemie offenbarte die zugespitzte Belastungssituation bei Schüler_innen und Lehrer_innen
Acht mal acht konnte ich am Ende zählen! Es waren somit 64, in der Spitze 75 Kacheln auf dem Bildschirm, hinter denen sich jeweils ein_e Teilnehmer_in verbarg, der/die sich nach zwei Stunden intensiven digitalen Austauschs über die aktuelle Situation an den Schulen in Zeiten der Pandemie voneinander verabschiedeten. Eingeladen hatten die Vorsitzenden der GEW zu dieser Online-Konferenz, um sich mit den schulpolitischen Sprecher_innen der in der Bürgerschaft vertretenen Parteien - außer der AfD - hierüber zu unterhalten.
Sabine Boeddinghaus von der Partei DIE LINKE und Birgit Stöver von der CDU waren dem Publikum bereits bekannt. Neu dagegen sind die Sprecherin der GRÜNEN und der Sprecher der SPD. Für die GRÜNEN stellte sich Ivy May Müller, noch im Referendariat, den Fragen, für die SPD war es Nils Springborn. Er ist Lehrer an der STS Horn und hat sich bereits auf kommunaler Ebene politische Meriten erworben.
Die Diskussion sollte um die Fragen Mehrbelastung sowie Arbeits- und Gesundheitsschutz kreisen; mit diesem Ziel strukturierte unsere Vorsitzende Anja Bensinger-Stolze und einer ihrer Stellvertreter, Sven Quiring, die Debatte.
Die ersten Statements zeigten starke Übereinstimmungen bei allen vier Vertreter_innen. Daher betonen die nachfolgenden Ausführungen nur die unterschiedlichen Akzentsetzungen. Sabine Boeddinghaus unterstrich in ihrem Beitrag, dass aufgrund der Gefahrenlage und der Notwendigkeit, die Pandemie einzudämmen, eher strengere Maßnahmen notwendig seien. Nur so könne man den bekannten Yo-Yo-Effekt ausbremsen. Um dem vielleicht größten Problem der Schüler_innen, der Vereinsamung, Herr zu werden, müsse man Bildung an andere Lernorte verlegen, an denen das Einhalten der Abstandsregeln kein Problem sei.
Ivy May Müller widersprach nicht der Forderung nach einem härteren Lockdown, machte aber deutlich, dass es aktuell um einen schärferen Infektionsschutz am Arbeitsplatz, vor allem in den Büros gehen müsse. Wenn dies einschließe, dass mehr Menschen von zu Hause aus arbeiten könnten, sei dies zugleich in Hinblick auf die Kinderbetreuung zu Hause besser und würde das System der staatlichen Obhut der Kinder entlasten. Obwohl sie als Referendarin die Not der Kolleg_innen nicht ganz so hautnah erlebe wie diese, so die bildungspolitische Sprecherin der Grünen weiter, sehe sie trotzdem die ungemeine Mehrbelastung. In die Notbetreuung, in der sie aktuell freiwillig mitarbeite, sollte die Behörde ab sofort Student_innen mit einbinden.
Nils Springborn beschrieb vor dem Hintergrund seiner Arbeit an einer Schule in heraufordernder Lage, dass vor allem der Hybridunterricht noch eine große Baustelle sei. Allein die Tatsache, dass die Schüler_innen nunmehr digitale Endgeräte in den Händen hielten, sei noch nicht die Lösung der Probleme. Das Vorhandensein dieser Gerätschaften offenbare erst die wahren Gründe, warum Schüler_innen ins Abseits geraten. Wenn die Mitglieder einer fünfköpfigen Familie in einer 2 1/2-Zimmer-Wohnung parallel an Endgeräten hingen, sei diese Situation weit entfernt davon, was man als gedeihliche Lernatmosphäre bezeichnen könne, so der schulpolitische Sprecher der SPD.
Birgit Stöver, bereits langjährige bildungspolitische Sprecherin der CDU, betonte, dass sie die Situation nicht nur als Politikerin, sondern auch als Mutter von drei Kindern wahrnehme. Ohne den bisherigen Ausführungen ihrer Parlamentskolleg_innen zu widersprechen, betonte sie, dass man schneller auf die Entwicklungen der dritten Welle hätte reagieren müssen. Konkret benannte sie für dieses Versäumnis die Einführung der Pilotphase der Schnelltests, die erst eine Woche nach (!) den Frühjahrsferien stattgefunden habe. Hier sei wertvolle Zeit verschenkt worden. Im Übrigen habe für sie aktuell das Testen absolute Priorität.
Testen als Ultima Ratio
Was das Testen angeht, so waren sich alle Sprecher_innen einig, dass dies zu beschleunigen sei. Das wöchentlich zweimal verpflichtende Testen sei zu wenig, wobei der SPD-Vertreter Nils Springborn darauf verwies, dass dieser Rhythmus bei einem halbwöchigen Unterricht bereits zweimal an drei Tagen faktisch einer hohen Testfrequenz entspreche.
In der späteren Diskussion stellte sich heraus, dass das Testen unabhängig von der Bereitstellung des Materials die Kolleg_innen vor große Probleme stellt. Neben der Tatsache, dass die aktuelle Testquote von 84 Prozent schon auf Widerstand hinweise, sei es nämlich keinesfalls so, dass die Schüler_innen begeistert auf das Testen reagierten. Die Kolleg_innen berichteten von einer ernstzunehmenden Zahl von Kindern, die sich weigerten, ein zweites Mal eine solche Prozedur über sich ergehen zu lassen, weil sie den Abstrich als sehr unangenehm wahrgenommen hätten. Außerdem seien den Berichten der Kolleg_innen zufolge manche SuS überfordert: sie brächen die Teststäbchen ab oder führten den Test nicht gründlich genug durch. Dies wiederum veranlasste Sven Quiring zu der Einlassung, dass man darüber nachdenken müsse, medizinisches Personal an Schulen – auch über die Pandemie hinaus – einzustellen. Einig war man sich auf jeden Fall, dass trotz aller Vorbehalte eine Testung in der Schule vorgenommen werden müsse, da man nicht davon ausgehen könne, dass das Testen zu Hause zu Ergebnissen führe, denen man vertrauen könne.
Alternativen, etwa „Lolli-Tests“, könnten nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden, solange sie vom RKI als nicht sicher genug eingestuft würden, so die Antwort des SPD-Vertreters auf eine Frage aus dem Auditorium. Er betonte zudem, dass man allen Verweigernden klar machen müsse, dass das Testen die zurzeit einzige Möglichkeit sei, um die Chance auf einen weitere Schulbetrieb aufrechterhalten zu können. Man könne folglich trotz der Widerstände an der gegenwärtigen Teststrategie festhalten bzw., wenn diese sich nicht als gründlich genug herausstelle, als letzte Konsequenz auch einen Testzwang nicht ausschließen, so die bildungs-bzw.schulpolitischen Sprecher_innen unisono.
Reparaturbetrieb
Einig war man sich in Hinblick auf die psychisch-sozialen Folgen der Pandemie bei vielen Schüler_innen. Diese im Blick zu behalten, sei das dringendste Problem. Auch gegenüber Lernrückständen habe die Arbeit hieran Vorrang. Diese klare Positionierung, der auch die CDU-Vertreterin nicht widersprach, wurde sichtbar, als aus dem Auditorium mit Verweis auf einen aktuellen SPIEGEL-Artikel die Frage gestellt wurde, ob es denn nicht sinnvoll sei, sich primär auf die Kernfächer zu konzentrieren, um die nicht zu übersehenden Lernrückstände aufzuholen. Daneben müsse man natürlich Inhalte streichen – zur Disposition stünden dann wie üblich die musischen Fächer.
Sabine Boeddinghaus hielt vehement dagegen: es gehe darum, sich grundsätzlich Gedanken über das Lernen zu machen. Das heiße in der Konsequenz, dass man zu einem anderen Bildungsbegriff kommen müsse. Weg vom ‚Trichterlernen‘, Lehrpläne konsequent entschlacken und hin zu dem, was mittlerweile im bildungspolitischen Diskurs unter inklusivem Lernen verstanden werde. „Nichts draufpacken durch Nachmittags- und Ferienunterricht“, so der Appell der Bildungspolitikerin der LINKEN.
Luise Günther, Kollegin an der Heinrich-Hertz-Schule, erteilte allen Befürworter_innen der Klassenwiederholung aus der Sicht der Klassenlehrerin einer achten Klasse eine Absage. Die Bindungswirkung des sozialen Gefüges einer Klassengemeinschaft dürfe nicht aufs Spiel gesetzt werden. Sie sei vor dem Hintergrund der psychischen Verunsicherungen, die die Pandemie angerichtet hätte, wichtiger denn je, gerade für die Schüler_innen, die, aus welchen Gründen auch immer, an der Situation besonders litten und dadurch leistungsmäßig ins Abseits geraten seien.
Runterfahren statt Draufsatteln
Es war Birgit Stöver von der CDU, die sich vehement für eine Arbeitsentlastung der Kolleg_innen aussprach. Das Arbeitszeitmodell müsse allerdings auch unabhängig von der Pandemie überarbeitet werden. Die Pandemie habe die Dramatik erst richtig offenbart. Sie zitierte Ergebnisse aus einer Untersuchung einer Studie, die im Auftrag der DAK vom Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung (IFT-Nord) in Kiel im Herbst letzten Jahres erstellt wurde. Danach bewerteten 90 Prozent der Befragten die pädagogische Arbeit gegenwärtig als anstrengender gegenüber dem Normalbetrieb; 28 Prozent zeigten starke Erschöpfung. Dass sich viele Kolleg_innen überfordert fühlten, zeige auch der deutliche Wunsch nach Fortbildung. 84 Prozent der Befragten sagten, dass die Situation eindeutig Mehrarbeit bedeute. Stöver sprach sich dafür aus, dass diese Mehrarbeit zu einem späteren Zeitpunkt verrechnet werden müsse.
Die Vertreter_innen der Regierungsparteien widersprachen nicht. Aber ein Kollege von einer Stadtteilschule nahm an dieser Stelle die Gelegenheit wahr, einmal sehr viel konkreter den Alltag der Kolleg_innen an den Schulen zu schildern. Er sprach von sechs (!) verschiedenen Settings: Neben Präsenzunterricht seien in der Notbetreuung A und B-Gruppen zu unterscheiden, in denen jeweils das Augenmerk auf die anwesenden, aber auch auf sich verweigernde, sprich nicht anwesende Schüler_innen zu richten sei. Dabei verschärfe sich das Problem in der Oberstufe, wo durch wenig kontinuierliche Teilnahme, unabhängig davon, ob im Präsenz- oder Fernunterricht, es ungemein schwierig sei, den Überblick zu behalten. Es sei herausfordernd, immer wieder die Schüler_innen zu ermuntern durchzuhalten.
Empathie als Gebot der Stunde
Dass dies alles eine empathische Einstellung den Schüler_innen gegenüber verlange, auch darin waren sich alle an der Konferenz Teilnehmenden einig. Anna Ammonn vom Verband Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule (GGG) hatte in ihrem Beitrag betont, dass man es gar nicht hoch genug würdigen könne, was die Kinder und Jugendlichen leisteten. Allein deshalb sei das Entschlacken der Bildungspläne unabdingbar.
Was bei der Krisenbewältigung trotz aller negativen Auswirkungen, die die Pandemie gezeitigt habe, nicht ganz aus dem Blick geraten solle, seien die Chancen in Hinblick auf die Veränderungen, die das Ganze auf das Lernen habe, so Ivy May Müller (GRÜNE). In Hinblick auf Individualisierung und digitales Lernen habe man Einiges dazu gelernt. Was sich hieraus positiv entwickeln lasse, sei im Einzelnen zwar noch nicht absehbar, klar sei aber, dass dies grundlegende Änderungen anstoßen werde.
Auch wenn zu vermuten ist, dass diesbezüglich zwischen den Parteien deutliche Unterschiede zu Tage treten werden, warb Sabine Boedinghaus dafür, nach der Pandemie einen Bildungskongress durchzuführen. Die Beteiligung aller von Bildungspolitik Betroffenen und an ihr Interessierte, so die Linken-Politikerin weiter, sei durch die Politik des amtierenden Senators immer weiter runtergefahren worden. Insofern sei die Krise als Chance zu sehen!
Unsere Vorsitzende Anja kommentierte ergänzend, dass es aktuell im Rahmen des Krisenmanagements auch darum gehe, alle Betroffenen deutlich zeitnaher als bisher in die anstehenden Vorhaben einzubeziehen. Die Praxis, den Schulleitungen am Freitag die Ausführungsbestimmungen für die am Montag durchzuführenden Maßnahmen zu übermitteln, sei das Gegenteil einer „auf Sicht fahrenden“ (O-Ton des Senators) Handhabung der Krisenbewältigung. Was aber insgesamt auch uns als Gewerkschafter_innen sauer aufstoße, sei die mangelnde Einbindung der Personalräte. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den gewählten Vertreter _innen der Beschäftigten sei sicher nicht die einzige, aber eine der Voraussetzungen dafür, dass es gelingt, die Pandemie erfolgreich zu bekämpfen.
Joachim Geffers, Schriftleiter der hlz
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