Weit spannt sich das Werk von Professor Dr. Ulrich Bauche. „Uli“, wie ihn seine vielen Freunde nennen, wurde im letzten Jahr 90 Jahre alt. Ulrich Bauche ist ein Vorbild. Er ist ein Demokrat und Wissenschaftler, so Carsten Brosda, Hamburger Senator für Kultur und Medien, im Vorwort zu „Genau hinsehen“. Ehrenvolleres und Besseres kann über „Uli“ nicht gesagt werden
Er war Volkskundler und jahrelang Hauptkustos am Museum für Hamburgische Geschichte (MHG). Er war Wegbereiter eines modernen historischen Stadtmuseums als politisch aufklärerische Institution. Er untersuchte die Rolle der Hamburger Institutionen, z.B. die sozialen Sicherungssysteme. Er beschäftigte sich vor allem mit der Arbeiterbewegung Hamburgs, der Industrialisierung und dem Genossenschaftswesen. Er organisierte große wegweisende Ausstellungen. Aus der 1988/89 gezeigten Ausstellung „Wir sind die Kraft. Arbeiterbewegung in Hamburg von den Anfängen bis 1945“ ging unter seiner Mithilfe letztlich das Museum für Arbeit hervor. 1991 kuratierte er die Ausstellung „400 Jahre Juden in Hamburg“ . Diese führte zur Einrichtung einer entsprechenden Dauerausstellung im MHG. Ohne seine Impulse zum Gedenken an die Shoah, an Verfolgung und Widerstand im Nationalsozialismus wären die Gedenkstätten im ehemaligen KZ Neuengamme, im ehemaligen KZ Fuhlsbüttel, im Plattenhaus Poppenbüttel, und im Lohsepark (Gedenkort Hannoverscher Bahnhof) nicht mit so großer Energie und Resonanz entwickelt worden.
Jetzt haben ihn seine Freunde und ehemaligen Mitarbeiter mit dem hier vorzustellenden Sammelband „Genau hinsehen“ geehrt, mit einer Auswahl aus mannigfachen Texten zur Gesellschaftsgeschichte seiner Vaterstadt Hamburg. Ja, er hat immer genau hingesehen. Ob es nun um die Intarsienkunst in Vierlanden ging, um Ausrufer und ländliche Händler auf dem Markt seit dem 17. Jahrhundert, um biedermeierliche Kunst, die sich natürlich auch damals nach dem Markt richtete, um Bühnenbilder im Barock, um bürgerliche Gartenbaukunst, um Hamburgs Bürgermilitär 1868, um den Schatz der Bürgerkapitäne oder um Selbsthilfe gegen Feuersnot – im vorliegenden Band kann man vergnügliche und erstaunlich detailreiche Texte finden. Kein Wunder, dass es immer wieder in Kollegenkreisen hieß. „Da müssen wir mal Uli Bauche fragen!“
Ragen diese volkskundlichen Texte schon weit über das hinaus, was man gemeinhin unter Volkskunde, also unter der Beschäftigung mit dem menschlichen Alltag und der Populärkultur versteht - Uli Bauches Sache war es nicht, einen verkitschten und romantisierenden Blick zurück auf die „gute alte Zeit“ zu richten -, so sind seine Beiträge zum jüdischen Leben und zur Arbeiterbewegung noch umso höher zu schätzen.
Von den Aufständen der Hamburger Handwerksgesellen und den dagegen eingeführten verschärften Gesetzen im 18 Jahrhundert, von der 1848er Revolution in Hamburg, von verschiedenen Streiks wie dem großen Hafenarbeiterstreik 1896/97, von der prekärer werdenden Lage der Angestellten und ihrem Abrutschen in den chauvinistischen und antisemitischen „Deutschen Handlungsgehilfen-Verband“ bis hin zum Wohnungselend der Arbeiterfamilien, überall führt uns Uli Bauche hin. Das über zweihundertjährige Hamburger Arbeitsleben mit seinen Klassenkämpfen, mit den Siegen und Niederlagen, das ganze Panorama der Geschichte der arbeitenden Hamburger Bevölkerung entfaltet sich vor uns.
Uli Bauche wurde 1928 in Hamburg–Hamm geboren und wuchs dort auf. Sein Vater Wilhelm Bauche kam aus einer christlichen, seine Mutter Gertrud Mendel aus einer jüdischen Familie. Für die Nazis war er also „Halbjude“. Im vorliegenden Band werden die vielen Verwandten aus Hamburg– Hamm vorgestellt. Max Mendel, sein sozialdemokratischer jüdischer Großvater mütterlicherseits, Hamburger Senator, war eine prägende Figur in dem genossenschaftlich organisierten Konsum-, Bau- und Sparverein „Produktion“ (gegründet 1899), wozu auch das gewerkschaftlich-genossenschaftliche Versicherungsunternehmen „Volksfürsorge“ gehörte. Max Mendel musste sich immer wieder dem ungebrochen starken Antisemitismus in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft stellen. Ab 1927 verstärkten sich die Vorwürfe der „Verjudung“ der Genossenschaft. 1928 agitierte die völkische Deutschnationale Volkspartei gegen die SPD mit der Karikatur eines von Juden geführten „Moloch Produktion“, dem Einzelhandel und Handwerksmeister schutzlos ausgeliefert seien.
Gleich nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten im Januar 1933 wurde am 17. Mai 1933 der Kreisleiter der NSDAP des Stadtteils Hamm-Süd, Otto Becker, zum Staatskommissar für den „Konsum-, Bau- und Sparverein Produktion“ ernannt. Max Mendel wurde sofort wegen angeblicher Veruntreuung angeklagt, der Prozess vor dem Landgericht Hamburg endete aber mit einem Freispruch. Am 19. Juli 1942 wurde er in das KZ Theresienstadt deportiert, wo er wenige Wochen später starb. An den engagierten Genossenschaftler und jüdischen Sozialdemokraten Max Mendel erinnert seit 1964 die Mendelstraße in Hamburg-Lohbrügge (Bergedorf).
2007 sagte sein Enkel Ulrich Bauche in einer Ansprache zum Stolpersteingedenken in Hamburg -Berne: „Judenfeindschaft und Antisemitismus waren schon vor 1933 in Deutschland sehr ausgeprägt, in unterschiedlichem Ausmaß je nach den gesellschaftlichen Gruppen. Am wenigsten in der Arbeiterschaft, stark im Kleinbürgertum, beherrschend in der Akademikerschaft, prägend auch in großen Teilen des Besitzbürgertums. Das Ausmaß überall wurde unter dem Einfluss der NS-Propaganda verstärkt.“ Die gesamte Ansprache ist im Sammelband zu finden: „Das Verhältnis der Deutschen zur Judenverfolgung“.
11 Jahre später, am 30. Januar 2018, hielt Uli Bauche, jetzt fast 90jährig, eine kurze Ansprache auf der Protestkundgebung vor dem Stadthaus. Diese Rede ist in seinem Buch „Genau hinsehen“ nachzulesen, auch sie ist bedenkenswert und soll hier fast vollständig abgedruckt werden:
„Ich kenne diesen Ort – mein Vater ist mit mir hingegangen – bei aller Gefahr, die das bedeutete. Im Frühjahr 1943 ging er mit mir hierher, als ich Ostern 1943 die Realschule verlassen und als kaufmännische Hilfskraft in der Stadt arbeiten musste. Er ging mit mir vor das Stadthaus, in dem die Geheime Staatspolizei ihr Hauptquartier in Hamburg hatte, …. Er zeigte mir, wo seine Genossen verhört, gefoltert und gequält worden waren – wie es bereits nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten ab Januar 1933 geschehen war und wie er es selbst im Herbst 1935 erlebt hatte.
Mein Vater Adolf Wilhelm Bauche, der als Grafiker vielfach für die Organisation der Arbeiterbewegung tätig geworden war, wurde im Herbst 1935 verhaftet – und hier im Stadthaus – verprügelt und aufgrund der erpressten Aussage 1936 wegen ´Vorbereitung zum Hochverrat´ zu 33 Monaten Haft verurteilt, nur weil er die sozialdemokratische Stadtteilorganisation mit fortgeführt hatte. Nach seiner Haft konnte er seine politische Tätigkeit nicht mehr fortsetzen und wurde zur Zwangsarbeit gezwungen, 1944 auch meine Mutter wegen ihrer jüdischen Abstammung. Ich musste Ostern 1943 die Realschule aus dem gleichen Grund verlassen und ging nun mit ihm in die Stadt, an diesen Ort, wo der Terror gegen Andersdenkende und die Aussonderung jüdischer Mitbürger, der Sinti und Roma und politisch Andersdenkender geplant, verabredet und organisiert wurde. Wenige Monate später zerstörten alliierte Bomber diese Zentrale des Terrors in Hamburg. Ich kenne also diesen Ort und weiß auch noch, dass nach der Befreiung am 8. Mai 1945 und der Wiederherstellung der neuen staatlichen Ordnung einige der Verfolgten ihren Peinigern in diesem Amtsgebäude wiederbegegnet sind.“
Uli Bauche, Wissenschaftler und Demokrat, hat uns weiterhin etwas zu sagen. Er ist Wegweiser und Vorbild. Sein Buch verdient Verbreitung.
Bernhard Nette, Stefan Romey
Ulrich Bauche: Genau hinsehen. Beiträge zur Gesellschaftsgeschichte Hamburgs. VSA: Verlag, Hamburg, 2019. 351 Seiten, 29,80 €.
Herausgegeben von Jürgen Bönig, Rolf Bornholdt und Wolfgang Wiedey unter Mitwirkung der Freunde des Museums der Arbeit e.V., des Freundeskreises KZ-Gedenkstätte Neuengamme e.V., des Hamburger Genossenschaftsmuseums und des Vereins für Hamburgische Geschichte.