Persönlichkeitsbildung oder Selbstkompetenzen?

Dieter Lenzen fordert in einem kürzlich erschienenen Buch „Bildung statt Bologna“
Tim Reckmann / pixelio.de

Gut zehn Jahre lang konnte die größte Studienreform seit 50 Jahren nicht schnell genug von Politik und Hochschulen umgesetzt werden. Spätestens seit 2009, dem zehnjährigen Jahrestag der „Bologna-Erklärung“, werden die kritischen Stimmen wie auch die unerwünschten Nebenfolgen unübersehbar. Seit einigen Jahren hat in der Politik wie auch bei den PräsidentInnen der Hochschulen die Einsicht Einzug gehalten, dass der Bologna-Reform eine „Reform der Reform“ oder auch ein „Bologna 2.0“ folgen müsse. Einer der eifrigsten Einführer der neuen Studiengänge und einer der vehementesten Kritiker dieser Reform sind eine Person. Einer, der selbst eifrig mitgewirkt hat bekennt heute, er habe sich getäuscht: Dieter Lenzen, seit 2010 Präsident der Universität Hamburg, der nun auch ein Buch veröffentlicht hat, in dem er seine Kritik an Bologna zusammenfasst.

 

Rückblick: Von der Glanzfassade zur Ruine

Der Bologna-Prozess begann 1999 mit der Unterzeichnung der Bologna-Erklärung durch die europäischen Bildungsministerinnen und -minister (in Deutschland durch die 16 zuständigen Landesministerinnen und -minister). Sie  strebte an, bis 2010 einen einheitlichen europäischen Hochschulraum zu schaffen. In der Bologna-Erklärung wird die Absicht der unterzeichnenden Staaten bzw. Bundesländer bekräftigt, innerhalb eines Jahrzehnts ein Leistungspunktesystem und ein System europaweit vergleichbarer gestufter Abschlüsse einzuführen. Dabei sollte der erfolgreiche Abschluss des ersten Zyklus die Bedingung für die Zulassung zum zweiten Zyklussein. Ziel dieses Systems gestufter Abschlüsse sei es dabei, die „arbeitsmarktrelevanten Qualifikationen der europäischen Bürger ebenso wie die internationale Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems zu stärken“, wie es in der Bologna-Erklärung hieß. Die Umstellung der Studiengänge in den Bundesländern erfolgte uneinheitlich, jedoch stetig, sodass seit 2010 die Studiengänge in den Bundesländern in der Mehrheit umgestellt sind und die Studierenden in den neuen Studiengängen die Mehrheit unter den Studierenden in Deutschland stellen.

Ab 2010 und in Folge des Bildungsstreiks von 2009, aber auch erster empirischer Erhebungen zu den Effekten der neuen Studienstruktur auf das Studierverhalten, folgte der Aufbruch- und Euphoriephase zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Phase der Ernüchterung, in der sich zeigte, dass sich die mit der Studienreform intendierten Ziele nicht einstellten. Parallel zum 10. Jahrestag der Unterzeichnung der Bologna-Erklärung fand im November 2009 der Bildungsstreik statt, bei dem bundesweit über 150.000 Studierende, Beschäftigte an Hochschulen, Schülerinnen und Schüler gegen die Studienreform im Zuge des Bologna-Prozesses demonstrierten. Im Aufruf zum Bildungsstreik wurde selbstbestimmtes Lernen und Leben statt starrem Zeitrahmen, Leistungs- und Konkurrenzdruck, ein freier Bildungszugang und die Abschaffung sämtlicher Bildungsgebühren, die öffentliche Finanzierung des Bildungssystems ohne Einflussnahme der Wirtschaft und die Demokratisierung und Stärkung der Mit- und Selbstverwaltung in allen Bildungseinrichtungen gefordert.

Die Einführung der neuen Studiengänge wurde zudem von einem Bündel an Erwartungen, wie schnellere Studienzeiten, geringere Abbruchquoten, mehr Transparenz, Mobilität und Internationalität begleitet, die mittlerweile – ein knappes Jahrzehnt nach ihrer Einführung – auch empirisch untersucht werden können. Wie verschiedene Untersuchungen zeigen, nimmt die Mobilität der Studierenden in den neuen Studiengängen gegenüber der Mobilität im bisherigen Magister-Diplom-System ab, zudem wird von Seite der Studierenden eine intransparente Überregulierung kritisiert. Die Zahl derer, die flexibel in Teilzeit studieren, ist ebenfalls rückläufig. Die neue Studienstruktur, so viel ist nach 15 Jahren Bologna unübersehbar, hat weniger die im Studiensystem durchaus vorhandenen Probleme reduziert, sondern eher neue geschaffen.

 

Gescheitert? Nachsteuern!

Dieter Lenzen, seit 2010 Präsident der Universität Hamburg, aktuell auch Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz und Vorsitzender des Aktionsrates Bildung, war von 2003 bis 2009 Präsident der FU Berlin. Dort tat er sich unter anderem dadurch hervor, dass er die schnellste Studienumstellung republikweit durchsetzte: Von 2007 an, und somit drei Jahre vor dem ‚Stichtag‘, konnte sich an der FU Berlin nur noch in Bachelor- und Master-Studiengänge eingeschrieben werden (abgesehen von den Juristen, Medizinern und Theologen, die sich erfolgreich widersetzt haben). Diese Hau-Ruck-Einführung begründete er 2006 damit, dass dies für sein Konzept einer exzellenten FU als „internationale Netzwerkuniversität“ notwendig sei. „Wir sind da. Erschöpft, aber zufrieden“, so Lenzen damals.

In Hamburg dagegen nahm er eine kritische Haltung gegenüber den neuen Studiengängen ein: Die Stimmung unter den Studierenden und den Universitätsbeschäftigten aufnehmend startete er die pressewirksam angekündigte „Reform der Reform“ im April 2012 mit einer Veranstaltung unter dem Titel Bologna 2.0 – Wie wollen wir studieren? Im Anschluss versprach Lenzen ein Studium, das „sich nicht nur auf Wissen und Kompetenzentwicklung versteht, sondern auch auf die Herausbildung von souveränen Persönlichkeiten“. Im nun von ihm veröffentlichten Buch Bildung statt Bologna! berichtet Lenzen vom Scheitern einer Reform, reflektiert darüber, was Bildung ist und skizziert, wie er sich eine Reform der Reform vorstellt.

Zu Beginn führt Lenzen aus, inwiefern „die letzten 15 Jahre eine beispiellose und desaströse Umformung der deutschen Universitätslandschaft gesehen“ haben. Insbesondere die „Verdrängung des Reflektierens aus der Universität“ (S. 30) ist ihm dabei ein Dorn im Auge. Die Bologna-Reform habe, so Lenzen, die Persönlichkeitsbildung aus dem Lehrplan gestrichen, was zu Lasten nicht nur der Studierenden, sondern langfristig auch zu Lasten des Arbeitsmarktes und der Gesellschaft gehe. Im zweiten Teil des Buches führt er beginnend mit dem Humboldt’schen Bildungsideal eines sich bildenden Menschen aus, was er unter Bildung versteht und gelangt zu dem Schluss, dass jedes Hochschulstudium, und somit auch ein Bachelorabschluss, „einen Beitrag zu allgemeiner Menschenbildung (vulgo: Persönlichkeitsentwicklung)“ (S. 83) leisten müsse. Dieses Bildungsverständnis weitet Lenzen nun in einem weiteren, entscheidenden Schritt aus und fasst darunter all die „Verhaltens- und Qualifikationserwartungen“, die „vor dem Hintergrund der Globalisierung“ an die Studierenden gestellt werden. Hierzu gehören für Lenzen die Fähigkeit, „die Chancen des Globalisierungsprozesses für den eigenen Lebenslauf nutzbar zu machen“ oder auch „die Bereitschaft zur laufenden Evaluation des eigenen Verhaltens“ (S. 60).  Abschließend fordert Lenzen, dass in einem „zweiten, durchdachteren Prozess – einem ‚Bologna 2.0‘“ (S. 82) solch überfachliche Kompetenzen unter der Bezeichnung general studies oder auch Liberal Arts in das fach- und methodenorientierte Bachelorstudium integriert werden müssen. Wie ein solches Seminarangebot ausgestaltet sein könnte, ist einem seiner zahlreichen Projekte an der Uni Hamburg zu entnehmen.

 

Vom Universitätskolleg zum Studium Generale

Das 2012 gegründete Universitätskolleg unter dem Titel „Brücken in die Universität – Wege in die Wissenschaft“ hat den Auftrag, die Übergänge zwischen Schule oder Beruf und Universität zu gestalten, indem Beratungsangebote unterbreitet, Veranstaltungen organisiert und Self-Assesments angeboten werden. Darüber hinaus soll es „perspektivisch zu einem Ort für general studies als Basis aller Fächergruppen werden“ (Homepage der Universität) – und stellt mithin ein Versuchslabor für die von Lenzen erwünschten Bologna 2.0-Seminare dar. Das bestehende Angebot umfasst verschiedene Online-Selbsttests für Studieninteressierte, „Interkulturelles Training & Coaching“ sowie eine Vielzahl von Angeboten zu „Lernstrategien und Selbstorganisation“ wie „RIO - Reflexion, Integration, Orientierung: Das portfoliounterstützte Tutorium für die Studieneingangsphase“.

Neben der Integration solcher überfachlicher Seminare in die Bachelorstudiengänge schlägt Lenzen im dritten Kapitel ein Bündel von Ideen vor, wie mit Bologna umzugehen sei. Dabei reichen seine Vorschläge von einem sehr schwammigen „irgendwas jenseits und gleichzeitig Diesseits der Subversion, der Sabotage, des Sublimen“ (S. 89) bis hin einem konkreten „alle Maschinen rückwärts“ (S. 103), mit dem das Buch schließt.

 

Persönlichkeitsbildung oder Selbstkompetenzen?

Lenzens Idee besteht darin, in einem Bologna 2.0-Prozess die bestehenden Bachelorstudiengänge mit zusätzlichen Seminaren anzureichern, um so die fachwissenschaftliche Berufsausbildung mit dem Erwerb überfachlicher Kompetenzen zu verbinden.  Mit dieser Forderung liegt Lenzen auf einer Argumentationslinie mit dem Aktionsrat Bildung, in dessen Gutachten von 2011 ebenfalls gefordert wird, dass neben den bereits bisher studienrelevanten Fach- und Methodenkompetenzen auch überfachliche Sozial- und Selbstkompetenzen zu definieren und in das Studium zu integrieren seien.  Entsprechend der Forderungen des Aktionsrats Bildung zur Förderung überfachlicher Kompetenzen nennt das Leitbild der Interessenverbände der Wirtschaft, Die Hochschule der Zukunft von 2010 als gewünschte Studienerträge ebenfalls sowohl fachliche als auch überfachliche Kompetenzen. Im Kontext solch arbeitsmarktpolitischer Überlegungen unterliegen Begriffe wie der der überfachlichen Persönlichkeitsentwicklung jedoch einem feinen, aber folgenschweren Bedeutungswandel.

Persönliche Kenntnisse und Fertigkeiten, aber auch individuelle Einstellungen und Verhaltensweisen werden zunehmend ökonomisch nutzbar gemacht, indem sie in den Anforderungskatalogen potentieller Arbeitgeber verstärkt auftauchen und sogar als entscheidend für den beruflichen Erfolg bezeichnet werden. So wird in der Umfrage Erwartungen der Unternehmen an Hochschulabsolventen des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) von 2012 festgestellt, dass es die sozialen und persönlichen Kompetenzen seien, die ausschlaggebend dafür seien, ob jemand eingestellt werde oder nicht. Unter dem Titel „Persönlichkeit ist entscheidend – Fachwissen ist nicht alles“ stellte die Umfrage fest, dass die „Top-Kompetenzen, die die Unternehmen von Hochschulabsolventen erwarten, […] Einsatzbereitschaft, Verantwortungsbewusstsein, selbständiges Arbeiten, Kommunikationsfähigkeit und Teamfähigkeit (sind). Das Fachwissen ist zwar ebenfalls sehr wichtig, es wird aber nach Abschluss eines Fachstudiums als selbstverständlich vorausgesetzt“ (DIHK 2012: 2).

 

Bildung statt Bologna 2.0

Beschäftigungsfähigkeit bzw. Employability als neues Studienziel ist die Bezeichnung für einen Studienertrag, der neben Fach- und Methodenwissen auch Selbst- und Sozialtechniken umfasst, die die Studierenden in die Lage versetzen (sollen), selbständig, flexibel und unternehmerisch auf Anforderungen des Arbeitsmarktes zu reagieren und sich ihnen anzupassen. Und in genau diese Richtung zielt die von Lenzen propagierte Idee eines Bologna 2.0. So tendieren die aktuell vom Universitätskolleg unterbreiteten Angebote eher dazu, weniger die Persönlichkeit bilden als die Beschäftigungsfähigkeit, und tragen somit eher zu einer Ökonomisierung des eigenen Lebens bei, weniger zur Entwicklung der eigenen Fähigkeiten und Interessen. Darüber hinaus wird durch den Ressourcenabzug in das Universitätskolleg die auch emanzipierende und bildende Funktion solider Fachbildung bedroht.

Im Zuge einer wie von Lenzen vorgeschlagenen Reform der Reform würden die (Aus)Bildungsinhalte von auf Mündigkeit und Aufklärung zielenden Bildungsprozessen weiter entkoppelt und ausschließlich in Bezug auf ihren ökonomisch-unternehmerischen Mehrwert wahrgenommen. Studierenden wird nahegelegt, sich solche Kenntnisse und Fertigkeiten anzueignen, die ihnen im Rahmen einer auf Konkurrenz und Wettbewerb basierenden Gesellschaft einen Nutzen versprechen. Gefordert werden nicht mehr, wie in den 1960er Jahren, Emanzipation antizipierende, sondern den Arbeitsmarkt antizipierende, ‚empowerte‘ Studierende. Was noch als Bildung bezeichnet wird, wandelt sich infolgedessen in unternehmerisch zu bewirtschaftendes (Sozial)Kapital bzw. Kompetenzen.

Und dennoch: Das von Lenzen propagierte Bologna 2.0-Modell wird sich in dem Maße durchsetzen, in dem diesem nicht durch entschlossenes Handeln progressiver (bildungs)politischer Akteure Einhalt geboten wird.

 

Fredrik Dehnerdt

 

Foto: © Tim Reckmann / pixelio.de